Was die neue Bundesregierung für die Europapolitik des Landes bedeutet

Was die neue Bundesregierung für die Europapolitik des Landes bedeutet

Wie wird sich die deutsche Europapolitik unter der neuen Regierung verändern? Auf neue Daten zurückgreifen, Ann-Kathrin Reinl und Stefan Wallaschek zeigen, dass die drei Koalitionspartner – SPD, Grüne und FDP – in EU-Fragen bei weitem nicht so nah beieinander liegen, wie man vermuten könnte. Viel wird davon abhängen, wie die Regierung die Pro-EU-Positionen der Grünen mit der sanften Europaskepsis der FDP vereinbaren kann.

Die neu gewählte Bundesregierung hat sich für ihre Amtszeit ehrgeizige Ziele gesetzt – mehr Fortschrittwagen (mehr voran wagen) wie der Koalitionsvertrag heißt. Eines der zentralen Politikfelder in der neuen Legislaturperiode ist ohne Zweifel die Europapolitik. Im Wahlkampf glänzten die Grünen in Fragen der Europäischen Union und schlugen konsequent europäische Lösungen für Themen wie Steuerpolitik, Klima- und Umweltpolitik oder Migrations- und Asylpolitik vor. Annalena Baerbock, die Spitzenkandidatin der Grünen, ist daher Außenministerin geworden und setzt sich gemeinsam mit ihren Staatsministern für eine starke und konsequente europäische Politik.

Im Koalitionsvertrag heißt es weiter, dass sich die neue Bundesregierung für eine Stärkung der EU-Legislative, also des Europäischen Parlaments, einsetzt und die EU zu einem „europäischen Bundesstaat“ entwickeln will. Zudem wird das als Reaktion auf die Covid-19-Pandemie im Jahr 2020 verabschiedete EU-Programm „Next Generation“ in der Vereinbarung unterstützt. Im Hinblick auf die soziale Dimension will die Koalition soziale Ungleichheiten in der EU minimieren und die Säule sozialer Rechte stärken. Damit folgt die neue Bundesregierung einem ehrgeiziger Regierungsplan.

Allerdings wurde der neuen Ampelkoalition aus Sozialdemokraten (SPD), Grünen und Freien Demokraten (FDP) dies zugetraut höchste Wahrscheinlichkeit aus den zur Verfügung stehenden Koalitionsoptionen keinen Erfolg zu haben, bleibt fraglich, wie geeint die Koalition in EU-Fragen wirklich ist, insbesondere was die Sozialagenda der EU betrifft.

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Um diesen Aspekt näher zu beleuchten, ziehen wir einen kürzlich veröffentlichten Experten heran Datensatz zu geschätzten Parteipositionen, deren Einschätzungen im Vorfeld des Jahres 2021 erhoben wurden Bundestag Wahlen. Wir greifen auf Artikel zurück, die sich besonders der EU und der Solidaritätspolitik innerhalb der Gemeinschaft widmen. Wir betrachten drei Themen: Ausweitung der Gesetzgebungskompetenzen auf EU-Ebene, die Einführung eines EU-weiten Sozialsystems und finanzielle Hilfen in der Wirtschaftskrise. Wir konzentrieren uns auf die drei Koalitionspartner SPD, Grüne und FDP, um ihre Positionierung zu diesen Themen zu ermitteln. Aus Abbildung 1 lassen sich drei zentrale Erkenntnisse ableiten.

Abbildung 1: Positionen der drei Regierungsparteien zur EU-Politik

Quelle: Zusammengestellt von den Autoren. Je höher die Parteien auf der y-Achse positioniert sind, desto stärker unterstützen sie eine Pro-EU-Politik.

Erstens stehen sich die drei Koalitionspartner in EU-Fragen nicht annähernd so nahe wie man zunächst vermuten könnte. Vor allem die FDP ist in allen drei Punkten deutlich euroskeptischer als die Grünen und die SPD. Damit könnte die FDP jede Ausweitung oder Vertiefung der europäischen Integration bremsen oder gar blockieren. Gerade mit dem Amt von Finanzminister Christian Lindner könnten progressive Reformvorschläge für die EU-Sozialpolitik schnell auf regierungsinternen Widerstand stoßen.

Zweitens bekräftigen die Grünen ihre proeuropäische Haltung, indem sie die stärkste und konsequenteste EU-Position vertreten (oder als solche wahrgenommen werden). Sie könnten damit zum Motor einer neuen Dynamik in der deutschen Europapolitik werden. Diese starke Haltung wird durch die erwähnte personelle Verstärkung des Außenministeriums für EU-Angelegenheiten unterstrichen. Zudem ist mit Sven Giegold ein langjähriger grüner Europaabgeordneter Staatsminister im neu strukturierten Ministerium für Wirtschaft und Klimaschutz von Robert Habeck (Vizekanzler und Co-Vorsitzender der Grünen) neben Franziska Brantner, einer weiteren Grünen Politiker mit expliziter EU-Expertise, der sich Habecks Team angeschlossen hat. Die Grünen könnten damit von zwei zentralen Ministerien aus Druck auf die Bundesregierung ausüben, ihr ambitioniertes EU-Programm anzugehen und umzusetzen. Allerdings wird dies sicherlich nicht konfliktfrei mit den beiden anderen Partnern verlaufen.

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Drittens hat die SPD eine doppelte Vermittlerposition. Nicht nur, weil ihre Position von Experten irgendwo zwischen Grünen und FDP (mit größerer Nähe zu den Grünen) eingeschätzt wurde, sondern auch, weil Bundeskanzler Olaf Scholz wohl einen Kompromiss zwischen den stark proeuropäischen Grünen und den eher schwachen finden muss Euroskeptische FDP. Möglicherweise muss Scholz auf die Politikkompetenz der Bundeskanzlerin zurückgreifen (Richtlinienkompetenz) in die Regierung, um der SPD in der neuen Legislaturperiode ein europäisches Profil zu geben. Damit würde ein wichtiges Zeichen für diejenigen Wähler gesetzt, die die SPD explizit aufgrund ihrer Position zur EU-Integration gewählt haben, wie bisherige Recherchen gezeigt haben.

Zusammenfassend kann die neue Koalition mit anhaltenden internen Konflikten konfrontiert sein, wenn es darum geht, eine substanzielle und nachhaltige EU-Reformpolitik zu verfolgen. Erstmals seit der Ära Schröder-Fischer (1998-2005) mit zwei linken Parteien an der Regierung besteht die Chance, echte Veränderungen herbeizuführen und den Zusammenhalt in der Europäischen Union zu stärken. Eine solche Reformanstrengung ist angesichts der anhaltenden Pandemie und nach mehreren Krisen im letzten Jahrzehnt dringend erforderlich.

Darüber hinaus könnte die EU vor dem Hintergrund der bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in Frankreich und eines möglichen Endes der Macron-Präsidentschaft eine stärkere und fortschrittlichere Führung der deutschen Regierung begrüßen. Dabei wird es nicht nur darauf ankommen, wie die Grünen und Außenministerin Annalena Baerbock ihre europapolitischen Vorschläge umsetzen: Entscheidend wird auch sein, wie sich die FDP in der neu gebildeten Regierung zu EU-Fragen einstellt und positioniert, ebenso wie inwieweit die Grünen sich engagieren werden von Bundeskanzler Scholz unterstützt.


Hinweis: Dieser Artikel gibt die Ansichten der Autoren wieder, nicht die Position von EUROPP – European Politics and Policy oder der London School of Economics. Gutschrift für ausgewählte Bilder: europäischer Rat


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