Brüssel: Der EU-Gipfel muss in die Verlängerung – und der Ton in Europa wird rauer

Brüssel: Der EU-Gipfel muss in die Verlängerung – und der Ton in Europa wird rauer

Der EU-Gipfel begann bereits mit Irritationen: Auf einer Pressekonferenz in der österreichischen Vertretung in Brüssel wiederholte Bundeskanzler Sebastian Kurz am Freitag seine bekannte Forderung, dass es kein Geld aus dem Wiederaufbautopf geben dürfe, wenn die Milliarden nicht „Hand in Hand gehen mit notwendigen Reformen in Staaten, die schlicht und ergreifend in ihren Systemen kaputt sind oder große Probleme haben.“ Das saß.

Es war alles andere als ein idealer Start in einen mehr als 13 Stunden langen Verhandlungstag eines Gipfels, bei dem sich zwar alle Teilnehmer einig darüber sind, dass es einen Hunderte Milliarden Euro schweren Wiederaufbautopf für das von der Corona-Krise gebeutelte Europa geben soll, die Details aber umstritten sind.

Während sich die Staats- und Regierungschefs am Freitag völlig verhakt hatten, zeichnete sich am Samstagabend zumindest etwas Bewegung ab. Nach einem Kompromissvorschlag von EU-Ratspräsident Charles Michel bliebe es zwar bei 750 Milliarden Euro Hilfsgeldern. Doch würden nicht 500 Milliarden, sondern nur 450 Milliarden Euro als Zuschuss vergeben und dafür 300 Milliarden statt 250 Milliarden als Kredit. „Die Dinge laufen in die richtige Richtung“, sagte Kurz.

Doch es wird weiterverhandelt. Gastgeber und EU-Ratspräsident Charles Michel kläre noch einige offene Fragen bei einem Abendessen mit den Staats- und Regierungschefs. Dann folge eine Nachtruhe, ehe man am Sonntagmorgen mit einem neuen Vorschlag wieder zusammenkommen werde. „Wir boxen es durch. Michel arbeitet umsichtig und will nicht, dass es jetzt durch die Lappen geht“,  teilte eine Gewährsperson in Brüssel mit.

Aufgeführt, als sei er der Polizist der EU

Am Freitagabend hatte es noch nicht danach ausgesehen: Während des gemeinsamen Essens, bei dem die Stimmung ohnehin bereits angespannt war, warf der bulgarische Ministerpräsident Boiko Borissow seinem auf strenge Reformbedingungen pochenden niederländischen Amtskollegen Mark Rutte vor, sich aufzuführen, als sei er der Polizist der EU. Der Ton ist rauer geworden in Europa und die zunehmend martialische Sprache der Politiker, die in Videoclips und Zitatfetzen durch die sozialen Medien gereicht werden, nagt langfristig am gegenseitigen Verständnis.

Siehe auch  Medizin statt Kronenimpfung: Wissenschaftler sprechen von "Durchbruch"

Insbesondere die niederländische Regierung hatte in der Corona-Krise mit einer harten, unnachgiebigen Sprache immer wieder Irritationen ausgelöst. Der rechtsliberale Regierungschef Rutte ist Stimmführer der sogenannten Sparsamen Vier, einer Gruppe zu der streng genommen fünf Nationen gehören, nämlich außerdem noch Österreich, Dänemark, Schweden und Finnland. Diese Länder pochen auf mehr Eigenverantwortung, weniger große Transfersummen und strenge Reformbedingungen.

„Will sichergehen, dass einige Länder sich zu Reformen verpflichten“

Die Niederlande und Österreich stellen sich bei den Verhandlungen um ein europäisches Corona-Hilfspaket bisher quer. WELT-Reporter Michael Wüllenweber hat darüber mit dem niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte gesprochen.

Quelle: WELT/Michael Wüllenweber

Seit Beginn der Krise hat Den Haag diese klare Position – und kommuniziert sie kompromisslos. Als die Finanzhilfen für Südeuropa noch unter den Finanzministern ausgehandelt wurden, rief der Niederländer Wopke Hoekstra in Südeuropa Empörung hervor. Nicht nur, dass er den ersten Rettungsgipfel der Finanzminister scheitern ließ, weil er auf strenge Reformbedingungen als Gegenleistung für Kredite aus dem Rettungsfonds ESM pochte. Er warf Italien und Spanien kaum verschleiert vor, für ihre prekäre fiskalische Situation in der Corona-Krise selbst verantwortlich zu sein. Dieser Kommentar auf dem Höhepunkt der Pandemie, als täglich Hunderte in Italien und Spanien starben, hat in Südeuropa viel guten Willen zerstört.

Die Toten, die Beschränkungen und die Fernsehbilder aus italienischen Krankenhäusern, die damals um die Welt gingen, hatten die Menschen verwundbar gemacht. Er habe es an Empathie mangeln lassen, gab Hoekstra später kleinlaut zu. Aber der Schaden war schon angerichtet: Die Italiener fühlten sich von Europa allein gelassen und wandten sich ab: Im März gaben 67 Prozent der Italiener bei einer Umfrage an, dass die Mitgliedschaft in der EU ihrem Land mehr schade als nutze. Anderthalb Jahre zuvor waren es noch 47 Prozent gewesen.

Dass Rutte auf europäischer Ebene jetzt trotzdem wieder nach weniger großzügigen Corona-Hilfen und strengen Bedingungen ruft, hat durchaus kulturelle Gründe. In den Niederlanden ist es eine Tugend, geradeheraus zu sein und in Nordeuropa auch. In Südeuropa wird etwas blumiger und länger geredet. Was dem einen ein ehrlicher Austausch ist, ist dem anderen eine Unverschämtheit.

Dass der Ton rauer ist als früher, liegt aber auch an Ruttes wackliger Machtposition. Er regiert in einer zerbrechlichen Viererkoalition und ohne eigene Mehrheit im Parlament. Im März wird in den Niederlanden gewählt; jede Äußerung auf europäischer Ebene und jedes Verhandlungsergebnis in Brüssel könnte beeinflussen, wer der nächste Regierungschef wird – und die Populisten sitzen den etablierten Parteien im Nacken.

Rutte und Hoekstra wetteifern denn auch mit den Politikern vom linken und rechten Rand, die in den Niederlanden länger als in vielen anderen EU-Ländern eine wichtige Rolle spielen und seit Jahren eine anti-europäische Stimmung schüren.

„Wir mögen einfach keine Afrikaner“

Ein über Jahre eingespielter verbaler Schlagabtausch zwingt sie dazu, möglichst martialisch zu sprechen, um den Wählern zu zeigen, dass sie sich durchsetzen können. Das Problem dabei ist, dass sie dadurch die Populisten in Südeuropa stärken. Der italienische Lega-Politiker Matteo Salvini nutzt jeden rhetorischen Fehltritt aus dem Norden, um seine national-populistische Kampagne gegen die EU zu befeuern und Italien zum Opfer Brüssels zu stilisieren. Verkompliziert wird die Lage dadurch, dass Populisten aus Osteuropa ohnehin kein Blatt vor den Mund nehmen. „Wir mögen einfach keine Afrikaner“, sagte jüngst ein osteuropäischer Regierungschef in einem Hintergrundgespräch.

Siehe auch  German Scholz fordert die Türkei auf, Griechenland nicht zu provozieren

Am Freitagabend versuchte Kurz in einem Interview mit dem österreichischen Fernsehen, die Kritik wieder einzufangen. „Ich habe nicht das Land als kaputtes System bezeichnet“, sagte er auf Italien angesprochen. Es sei ihm um Wettbewerbsfähigkeit gegangen, um Rentensysteme, Bürokratie und Korruption. Da war es allerdings schon zu spät. Sein Zitat kursierte bereits im Netz.

Dieser Text ist aus der WELT AM SONNTAG. Wir liefern sie Ihnen gerne regelmäßig nach Hause.

Quelle: WELT AM SONNTAG

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert