Berlin-Kreuzberg, Zossener Straße. Eine Kaffeeecke. Harald Hauswald nimmt zuerst einen schwarzen Kaffee und zündet sich eine Zigarette aus der großen Packung an. Der 66-Jährige scheint hier in der angesagten Nachbarschaft keine Zeit mehr zu haben: schulterlanges graues Haar, zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, wilder Vollbart und alles andere als trendy. Dazu ein T-Shirt und Jeans. Ihre Kleidung ist nur Kleidung, weder eine Aussage noch eine Inszenierung.
Hauswald lebt seit Jahren in Kreuzberg, dem Viertel, das Ostberliner wie ihn vor dem Fall der Berliner Mauer auf magische Weise angezogen hat. Diejenigen, die während der DDR-Zeit im Prenzlauer Berg lebten, nahmen hier normalerweise den ersten westlichen Korridor, nachdem die Mauer gefallen war, in Richtung der linken alternativen Mitte und nicht in Richtung des bürgerlichen Kurfürstendamms.
Auf dem Prenzlauer Berg im nördlichen Teil hat Hauswald noch einen Arbeitsbereich mit einer Dunkelkammer und Kisten, die mit Negativen, Kontaktbögen, Drucken auf Plastik und Baryt gefüllt sind. Hauswald mag das alte verlassene DDR-Viertel nicht mehr wirklich. An Orten, an denen viele Neuankömmlinge leben, ist es zu schick und elegant für ihn, die weniger gut ausgestatteten nördlichen Ecken hingegen sind zu leblos.
Aber Hauswald weiß, was er Prenzlauer Berg schuldet. Ohne die Nachbarschaft wäre er wahrscheinlich nicht zu dem geworden, was er heute ist: einer der wichtigsten überlebenden Fotografen der DDR, ausgezeichnet mit dem Bundesverdienstkreuz und dem Bürgerpreis für die deutsche Einheit, hier und im Ausland ausgestellt – und jetzt auch auf dem internationalen Kunstmarkt gefragt. .
In den 1980er Jahren fotografierte Hauswald buchstäblich seine Nachbarschaft. In Prenzlauer Berg gibt es kaum eine Ecke, die er nicht gefilmt hat. Es gab aber nicht nur Bilder der krankhaften, künstlerischen und anarchischen Welt derer, die dem Sozialismus vorgefertigter rechteckiger Gebäude entkommen wollten. Hauswald blickte durch eine Lupe auf die Qual, den Niedergang der gesamten DDR.
Dabei entstanden fotografische Ikonen, die häufig ausgestellt und veröffentlicht werden, um die letzte Phase der DDR zu veranschaulichen: das Foto von Hausmann vom 1. Mai, das im Regen und im Sturm jegliche sozialistische Ordnung verliert. Oder das Möbelhaus, über dem die Leuchtreklame “Wohnkultur” steht: Das Licht geht nicht mehr an, der Putz löst sich ab, der Kitt bröckelt aus den Fensterrahmen. Möbel sind hier schon lange nicht mehr erhältlich. „Dies ist wahrscheinlich das Foto, das die Stasi am meisten hasste“, sagt Hauswald.
Hauswald hat in seinem Archiv fast eine Viertelmillion Fotos aus 7.500 Filmen, die zwischen 1975 (ein Jahr bevor die DDR Songwriter und Dichter wurde) aufgenommen wurden Wolf Biermann Expatriates) bis 1995 (ein Jahr nachdem die Treuhandanstalt die Liquidation der VEB-Wirtschaft abgeschlossen hatte). Die meisten dieser Bilder, viele in Schwarzweiß, wurden nie veröffentlicht. Jahrzehntelang waren sie in Hauswald-Lodges weitgehend unorganisiert.
Seit drei Jahren werden sie gesiebt und katalogisiert, finanziert von der Stiftung für die Arbeit der SED-Diktatur. Insgesamt sollen 6000 Bilder in hoher Auflösung gescannt werden, Fotos, die auch Hauswalds Reise als Fotograf nachzeichnen, von der noch schüchternen ersten Herangehensweise an die Straßenfotografie über die opulente Farbserie der Zeitschrift “Geo” bis zur anlässlich des 750. Jahrestages der Stadt Berlin. Der Fotograf Ute Mahler traf die Auswahl. Sie ist wie Hauswald eine der Gründerinnen der Berliner Fotoagentur Ostkreuz.
Zusammen mit der Kuratorin Felix Hoffmann und der Ostkreuz-Kollegin Laura Benz hat Mahler nun 250 Bilder aus dieser Auswahl für eine Ausstellung in der C / O Berlin-Fotogalerie ausgewählt, die an diesem Wochenende eröffnet wurde. Dies ist die erste Hauswald-Retrospektive, die größtenteils aus unveröffentlichtem Archivmaterial besteht. „Seine Fotografien sind von unschätzbarem Wert und schaffen visuelle Erinnerungen an die deutsch-deutsche Geschichte“, erklärt Hoffmann.
Foto: Harald Hauswald / OSTKREUZ / C / O Berlin
Es ist auch eine Art fotografische Belohnung für den subversiven Fotografen der DDR, 30 Jahre nach der Vereinigung. Zusammen mit der Ausstellung erscheint im Steidl-Verlag ein prächtiges großformatiges Fotobuch mit allen Ausstellungen. Titel der Show und des Buches: “Voller Leben”.
Wer sich das Bildband und die Ausstellung ansieht, kann zu dem Schluss kommen, dass es nur den Fotografen aus der DDR Harald Hauswald gibt. Aber auch nach dem Zusammenbruch der DDR fotografierte Hauswald weiter, zum Beispiel eine poetische Roadmovie über Reisen mit dem Orient Express von Paris nach Istanbul – voll in Farbe und digital, oft nur mit der iPhone.
Schon in den Tagen der DDR strebte er nach anderen Themen. Im Sommer 1989 nutzte er die Gelegenheit, Verwandte aus dem Westen zu besuchen, um einen westdeutschen Pass zu erhalten, für ein paar Tage in die Türkei zu fliegen und dort Fotos zu machen. Als er die Bilder zu Hause entwickelte, erinnert sich Hauswald heute: “Ich sagte mir, gar nicht so schlecht! Als Fotograf brauche ich nicht einmal die DDR.”
“Harald Hauswald: voller Leben” – bis 23. Januar 2021 Ich bin C / O Berlin