Corona-Fonds: Warum jetzt alles von Mark Rutte abhängt
Warum jetzt alles von Mark Rutte abhängt
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Der niederländische Premier Mark Rutte ist mit knallharten Forderungen in die Verhandlungen über den Corona-Hilfsfonds und den EU-Haushalt gegangen. Denn Kompromisse kann er sich nicht leisten – aus zwei Gründen.
Mark Rutte zog es vor, zu schweigen. Anders als üblich bei EU-Gipfeln, wo die Staats- und Regierungschefs beim Entree vor den Kameras der Fernsehteams haltmachen, um für das heimische Publikum noch einmal ein Statement abzugeben, verzichtete Rutte diesmal darauf, in die Mikros zu sprechen. Nach einer Nacht mit viel Schlaf und der Autofahrt von Amsterdam nach Brüssel marschierte er schnurstracks in den Sitzungssaal S5 im fünften Stock des Europa-Gebäudes.
Dass der niederländische Premierminister am Donnerstagabend früh ins Bett gegangen ist, könnte ihm auf dem Gipfel helfen, denn die Verhandlungen, in denen es um bis zu 1800 Milliarden Euro geht, könnten sich bis in die Nacht oder den frühen Morgen ziehen. Dann nämlich, wenn es in den ersten Verhandlungsstunden gut läuft und Sitzungsleiter EU-Ratspräsident Charles Michel das Gefühl hat, dass soviel Dynamik und Bewegung in den Gesprächen ist, dass eine Einigung in der Nacht möglich ist.
Wenn die Gespräche um den EU-Wiederaufbauplan und den kommenden Siebenjahreshaushalt der EU allerdings kaum vorankommen, will er die Sitzung abends unterbrechen. Dann werden seine Beamten und die der Kommission über Nacht an neuen Kompromissvorschlägen arbeiten und Michel wird die Sitzung am Samstagmorgen wieder aufnehmen.
Wie die Verhandlungen laufen und wie viel Schlaf die Spitzenpolitiker bekommen werden – das hängt vor allem von Rutte ab. Der rechtsliberale Regierungschef ist der Stimmführer unter den sogenannten Sparsamen Vier, einer Gruppe zu der eigentlich fünf Nationen gehören, nämlich außerdem noch Österreich, Dänemark, Schweden und Finnland. Diese Länder pochen bei dem bis zu 750 Milliarden Euro schweren Wiederaufbauplan in der Corona-Krise auf mehr Eigenverantwortung, weniger große Transfersummen und strenge Reformbedingungen.
Dass Rutte auf europäischer Ebene in einem teilweise rüden Tonfall nach weniger großzügigen Corona-Hilfen und strengen Bedingungen ruft, hat – natürlich – innenpolitische Gründe. Das Parlament spielt in den Niederlanden eine weitaus stärkere Rolle als etwa in Deutschland; für die Verhandlungen in Brüssel musste sich Rutte zunächst ein Mandat von den Parlamentariern holen und auch für das Verhandlungsergebnis braucht er eine Mehrheit.
Das Problem: Rutte regiert in einer zerbrechlichen Vierer-Koalition und ohne eigene Mehrheit im Parlament. Im Frühjahr wird in den Niederlanden gewählt; jede Äußerung auf europäischer Ebene und jedes Verhandlungsergebnis in Brüssel könnte beeinflussen, wer der nächste Regierungschef wird – zumal antieuropäische Populisten den etablierten Parteien im Nacken sitzen.
Haushaltsdisziplin ist zentral für die niederländische Finanzpolitik; Sparsamkeit gilt als eine Tugend. Wie sensibel die Wähler reagieren, wenn Geld nach Brüssel fließt, zeigt eine inzwischen sehr bekannte Szene aus dem Frühjahr, als in Brüssel über die erste Runde der Corona-Hilfen verhandelt wurde: Vor laufenden Kameras und ungeplant kam ein Wähler bei einer Veranstaltung auf Rutte zu und bedrängte ihn, dafür zu sorgen, dass die Steuergelder der Niederländer nicht unkontrolliert nach Südeuropa fließen.
Rutte beharrt denn auch bei diesen Verhandlungen darauf, dass die Gelder nur fließen dürfen, wenn die Empfängerländer im Gegenzug Reformen und Wachstumsinvestitionen versprechen. Die Reformpläne der Empfängerländer müssten von den Regierungen aller EU-Länder einstimmig genehmigt werden, so Rutte. Außerdem sollten alle Länder kontrollieren, ob die Empfänger die versprochenen Reformen auch umgesetzt haben, bevor Gelder fließen. Das bedeutet, dass die Niederlande oder jedes andere Land Finanzhilfen blockieren könnte.
Für Italien und andere südeuropäische Länder wäre das völlig inakzeptabel. Seit der griechischen Schuldenkrise und den Erfahrungen mit der Troika gelten derlei harte Bedingungen und Kontrollen in Südeuropa als Inbegriff von Gängelei durch die wohlhabenderen Nordeuropäer. Ein möglicher Kompromiss wäre, dass die Hauptstädte die nationalen Reformpläne lediglich mit qualifizierter Mehrheit billigen müssen. So hat es Ratspräsident Michel vorgeschlagen.
Die Frage der Reformbedingungen gilt als die entscheidende Hürde vor einer Einigung. „Wenn die Mitgliedstaaten sich darauf einigen können, wäre das ein Durchbruch“, sagte ein EU-Diplomat vor den Verhandlungen. Entscheidend wird sein, ob Rutte solch einem Kompromiss zustimmt.
Beim letzten EU-Gipfel im Februar, auf dem es ebenfalls um den billionenschweren EU-Haushalt ging und der ergebnislos endete, erschien Rutte mit einer Chopin-Biografie unterm Arm. Die Botschaft des Niederländers, der damals für Kürzungen beim Haushalt eintrat, war klar: Die Niederlande haben es nicht eilig mit einer Einigung. Damals gab er ein Statement vor dem Treffen. Er habe das Buch mitgenommen, weil es nichts zu verhandeln gebe, sagte er in die Mikrofone. Da werde er Zeit zum Lesen finden. Dass er diesmal kein Buch dabei hat, könnte ein Signal sein, dass er sich doch stärker einbringen will als beim letzten Mal.
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