Walter Lübcke: Was die Frau des mutmaßlichen Mörders vor Gericht aussagt
Die Festnahme Stephan Ernsts dürfte das Leben dreier Frauen einschneidend verändert haben. Das seiner Mutter, die bei ihren Besuchen im Gefängnis beteuert, sie halte zu ihrem Sohn. Das seiner Tochter, die den Kontakt zu ihrem Vater abgebrochen hat. Und das seiner Ehefrau, die den Saal 165 des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main nun zaghaften Schrittes betritt. Sie wirft einen scheuen Blick nach links zu ihrem Ehemann, der wegen Mordes am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke auf der Anklagebank sitzt.
Ob sie vor Gericht wirklich aussagen wolle, fragt der Vorsitzende Richter Thomas Sagebiel. “Sie müssen nicht.” Die kleine Frau versinkt fast in dem Stuhl, der für Zeugen vorgesehen ist. Sie nickt mit dem Kopf, ja, sie will. Neben ihr nimmt ein Anwalt als Beistand Platz.
Frau Ernst will aussagen und schnell wird klar, warum. Was den Mord an Walter Lübcke angeht, hat sie anscheinend nichts zu verheimlichen. Sie kann bedenkenlos über das Leben an der Seite des mutmaßlichen Mörders sprechen, weil sie offenkundig so ahnungslos war wie es manche Ehepartner sind, die vom Leben des anderen nichts mitbekommen – oder nichts mitbekommen wollen.
Ein anstrengendes Verhör
Dem 5. Strafsenat geht es um die Tatnacht, die Nacht zum 2. Juni 2019. Frau Ernst sagt, sie sei im Bad gewesen, als ihr Mann gegen Mitternacht nach Hause kam. Sie habe zwei Autos kommen hören: Eines habe “stark abgebremst”, wenige Sekunden später sei in langsamer Geschwindigkeit ein zweiter Wagen gefolgt und habe geparkt. Sie will gehört haben, wie zwei Autotüren zugeworfen wurden.
Eine Wahrnehmung, die Stephan Ernsts Angabe stützen könnte, dass er nach der Tat gemeinsam mit dem Mitangeklagten Markus H. zu sich nach Hause gefahren ist. Dort will Stephan Ernst eine Waffe geholt und Markus H. ausgehändigt haben.
Der Senat will nun wissen, ob sich Frau Ernst darüber wunderte, dass mitten in der Nacht zwei Autos vor ihrem Haus parken und zwei Autotüren zuschlagen? Nein, sagt Frau Ernst. Es sei spät und sie sei müde gewesen, sie habe sich keine Gedanken gemacht. Nach dem Bad sei sie ins Schlafzimmer. Dort sei kurz darauf ihr Mann erschienen, er habe jedoch anschließend noch einmal das Haus verlassen. Warum? Wohin? Tat er das öfter? “Wenn mein Mann rausgeht, muss er mir nicht sagen, wohin.” Und dann sagt Frau Ernst einen Satz, der an diesem Vormittag immer wieder fällt: “Ich habe nicht gefragt.”
Es ist ein mühsames Verhör. Frau Ernst, gelernte pharmazeutisch-technische Assistentin (PTA), antwortet mit leiser Stimme, immer wieder muss sie aufgefordert werden, lauter ins Mikrofon zu sprechen.
Seit 2001 ist sie mit Stephan Ernst verheiratet. Ist sie in diesen Jahren je Markus H. begegnet, der wegen Beihilfe zum Mord an Walter Lübcke angeklagt ist? Nein. Hat Ihr Mann ihr von H. erzählt? Nein. Hat er ihr vom Schützenverein erzählt, mit wem er da hingeht? Nein. Hat sie je gefragt? Nein.
Versprach ein Szeneanwalt Unterstützung von Kameraden?
Der Senat interessiert sich für die Rolle des ersten Verteidigers Dirk Waldschmidt, ein umtriebiger Szeneanwalt, der Ernst zum ersten Geständnis geraten haben soll. Darin behauptete Ernst, er habe Walter Lübcke allein getötet. Wie kam Waldschmidt zu dem Mandat? Wer hat ihn beauftragt? Frau Ernst weiß es nicht. Eines Tages habe Waldschmidt angerufen und sie anschließend zu Hause besucht. Tage später habe er bei der Familie eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen, sie solle sich keine Sorgen machen um das Haus und mögliche finanzielle Verpflichtungen, “die Kameraden würden uns helfen”.
Frau Ernst löschte die Nachricht, “aus Angst”, wie sie im Gericht sagt. Für sie sei klar gewesen, dass sie kein Geld annehmen würde. “Ich wollte keine Hilfe von Kameraden.”
Frau Ernst will vor Gericht nicht über die Familie sprechen, nicht über ihre und nicht über die ihres Mannes. Stephan Ernst hatte in seinem dritten Geständnis eine Kindheit unter einem gewalttätigen und ausländerfeindlichen Vater beschrieben. Frau Ernst will auch nicht über Eheprobleme und einen Zettel mit einer Telefonnummer in der Hose ihres Mannes sprechen, nicht über den Familienurlaub in Tschechien und nicht über das Messer, das in ihrem Haushalt gefunden wurde, mit DNA, die Übereinstimmung mit der DNA aufweist von Ahmad E., den Stephan Ernst im Januar 2016 angegriffen und schwer verletzt haben soll. Über die Freunde ihres Mannes kann Frau Ernst nicht sprechen. “Kenne ich nicht”, sagt sie. Stephan Ernst lässt sie während ihrer Befragung keinen Moment aus den Augen.
Kennt sie die kriminelle Vergangenheit ihres Mannes?
Ein einziges Mal blitzt in der Befragung auf, wie erschütternd es für Frau Ernst gewesen sein muss, als in der Nacht zum 15. Juni vergangenen Jahres ein Spezialeinsatzkommando die Tür zu ihrem Haus aufbrach, hineinstürmte und ihren Ehemann Stephan festnahm. Um 3 Uhr saß Frau Ernst selbst auf einer Dienststelle und wurde befragt, es war ihr 43. Geburtstag. Sie habe damals noch ihre Schlafsachen getragen und keinen Anwalt bei sich gehabt, sagt sie im Gericht.
Damals erwähnte sie nicht, dass ihr in der Nacht, in der Walter Lübcke erschossen wurde, zwei Autos vor ihrem Haus auffielen. Erst am 1. Juli rief sie selbst bei der Polizei an und erzählte von den zwei Autos, die sie in der Tatnacht gehört habe. Ihr sei es in diesem Moment erst in Erinnerung gekommen.
In ihrer Vernehmung nach der Festnahme ihres Mannes offenbarte sich – sollte Frau Ernst die Wahrheit gesagt haben – dass sie auch recht wenig über die kriminelle Vergangenheit ihres Ehemannes zu wissen schien. Stephan Ernst, der als 15-Jähriger ein Haus anzünden wollte, in dem mehrere türkische Familien wohnten; der als 19-Jähriger auf der Toilette des Wiesbadener Hauptbahnhofes einem türkischen Imam ein Messer in den Rücken und anschließend in die Brust rammte und ein Jahr später eine Rohrbombe nahe einer Asylbewerberunterkunft deponierte. Vier Jahre lang saß er im Gefängnis.
“Er sagte: Messerstecherei”
Nicole Schneiders, die Markus H. verteidigt, fragt an diesem 14. Verhandlungstag, ob Stephan Ernst ihr erzählt habe, warum er im Gefängnis saß. Auch dazu wollte Frau Ernst im Gericht nichts sagen. Bei ihrer Befragung nach der Festnahme ihres Mannes hatte sie noch geantwortet: “Irgendeine Schlägerei mit Messer”, er habe ihr aber nicht so richtig was davon erzählt. Ihr angebliches Desinteresse irritierte selbst die Vernehmungsbeamten, die nachhakten, warum sie solche Details nicht hinterfrage. Ihre Antwort: “Doch, ich habe doch gefragt. Er sagte: Messerstecherei.”
Und wie es oft ist in sprachlosen Beziehungen: Auf die wirklich wichtigen Fragen zu ihrem Partner haben die Betroffenen oft keine Antwort – oder Angst davor, sie auszusprechen. So antwortete Frau Ernst damals auf die Frage, ob sie eine “gute Beziehung” zu ihrem Mann habe, dass sie darauf nicht antworten wolle. Würde sie ihrem Mann zutrauen, dass er jemanden erschießt? Ihre Antwort: “Dazu möchte ich nichts sagen.”
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