Eskalation am Reichstag: "Angriff auf das Herz unserer Demokratie"

Eskalation am Reichstag: „Angriff auf das Herz unserer Demokratie“

Bundespräsident Steinmeier und zahlreiche Politiker haben entsetzt auf die Geschehnisse von gestern reagiert. Demonstranten hatten versucht, den Reichstag zu stürmen. Der Veranstalter distanzierte sich.

Parteiübergreifend herrscht Einigkeit: Das Vordringen von Demonstranten auf die Treppe des Reichstagsgebäudes bei den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen sei nicht akzeptabel. Bundespräsident Steinmeier verurteilte die Vorgänge vom Samstag scharf: „Reichsflaggen und rechtsextreme Pöbeleien vor dem Deutschen Bundestag sind ein unerträglicher Angriff auf das Herz unserer Demokratie. Das werden wir niemals hinnehmen.“ Er dankte den Polizisten, „die in schwieriger Lage äußerst besonnen gehandelt haben“. Morgen will der Bundespräsident am Einsatz beteiligte Beamten in seinem Amtssitz empfangen.

Steinmeier betonte: „Unsere Demokratie lebt.“ Wer sich über die Corona-Maßnahmen ärgere oder ihre Notwendigkeit anzweifele, könne das tun, auch öffentlich, auch in Demonstrationen. „Mein Verständnis endet da, wo Demonstranten sich vor den Karren von Demokratiefeinden und politischen Hetzern spannen lassen.“

Scharfe Kritik von Schäuble

Ähnlich wie Steinmeier äußerten sich Politiker aller Fraktionen im Bundestag, unter ihnen auch mehrere Minister. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble sagte im Interview mit den tagesthemen, er finde das Vorgehen der Demonstranten am Reichstag verabscheuungwürdig. Da gehe es aber um eine kleine Minderheit. Die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger unterstütze die Corona-Beschränkungen.

Die Berliner Polizei habe es bei dem Einsatz schwer gehabt, das Ganze aber ziemlich gut gemacht, so Schäuble.

Scholz: Große Mehrheit einverstanden mit Maßnahmen

Vizekanzler Scholz sagte: „Es kann nicht hingenommen werden, dass einige mit Symbolen aus einer schlimmen, dunklen Vergangenheit vor dem Reichstagsgebäude auftreten und das wichtigste Symbol unserer Demokratie, das Parlament, missachten.“ Es müsse alles dafür getan werden, dass solche Bilder nicht noch mal entstehen könnten. Zudem dürften diese Szenen von einer Sache nicht ablenken: „Die ganz große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes ist einverstanden mit all den Entscheidungen, die wir getroffen haben zum Schutz der Gesundheit, zum Wohl der Wirtschaftskraft und des sozialen Zusammenhaltes“, erklärte der SPD-Kanzlerkandidat.

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CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer sagte, jeder Demonstrant müsse sich überlegen, ob es sein Unbehagen und seine Kritik wert sei und es rechtfertige, mit Nazis zusammen zu versuchen, den Reichstag zu stürmen. „Das treibt mich um, das macht mich wütend, und das muss die CDU in der politischen Diskussion deutlich machen“, so Kramp-Karrenbauer im ZDF.

SPD-Fraktion will Sondersitzung des Ältestenrates

Die SPD-Bundestagsfraktion will wegen der Ereignisse am Berliner Reichstag den Ältestenrat des Bundestages zusammenrufen. Das kündigte Fraktionsgeschäftsführer Carsten Schneider an: „Ich werde morgen eine Sondersitzung des Ältestenrates beantragen, um die Pläne zur Errichtung einer Sicherheitszone zu überprüfen und für eine schnelle Umsetzung zu sorgen.“

Zudem müsse Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble mit dem Berliner Senat über das Sicherheitskonzept sprechen. Gegebenenfalls müsse der Bund den Bundestag selbst sichern. Der Bundestag sei ein offenes Parlament, aber die Demokratie dürfe sich nicht vorführen lassen. „Die aktuellen Regelungen sind mangelhaft und laden zu solchen Aktionen förmlich ein.“

Veranstalter kritisiert Polizei

Einen Tag nach dem Vorfall distanzierte sich auch der Initiator der Demonstration und Kundgebung, Michael Ballweg, von den Demonstranten am Reichstag. „Die haben mit unserer Bewegung nichts zu tun“, sagte er. Die von ihm gegründete Initiative Querdenken sei eine friedliche und demokratische Bewegung, Gewalt habe da keinen Platz.

Er verstehe nicht, warum der Berliner Innensenator Andreas Geisel „nicht entsprechende Polizeikräfte aufwartet, um solchen Aktionen zu begegnen“ -zumal diese vorher bekannt gewesen seien, meinte Ballweg. „Warum ist er nicht in der Lage, das Gebäude zu schützen?“

Triumphierend mit Reichsflaggen

Eine große Gruppe Demonstranten gegen die Corona-Politik hatte am Samstagabend Absperrgitter am Reichstagsgebäude in Berlin überwunden. Sie stürmten die Treppe hoch und bauten sich vor dem verglasten Besuchereingang auf.

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Dabei waren auch die von den sogenannten Reichsbürgern verwendeten schwarz-weiß-roten Reichsflaggen zu sehen, aber auch andere Fahnen. Anfangs standen nur drei Polizisten der grölenden Menge entgegen. Nach einer Weile kam Verstärkung, und die Polizei drängte die Menschen auch mit Hilfe von Pfefferspray zurück.

Demo weitgehend friedlich – Kritik von Spahn

Zuvor hatten nach Schätzungen der Polizei knapp 40.000 Menschen aus ganz Deutschland weitgehend friedlich gegen die Corona-Politik demonstriert. Kritik richtete Bundesgesundheitsminister Jens Spahn allerdings auch an diese Demonstranten: „Es war zutiefst unsolidarisch und auch unpatriotisch, keine Masken zu tragen, keinen Abstand zu wahren und damit andere zu gefährden“, sagte der CDU-Politiker der „Stuttgarter Zeitung“ und den „Stuttgarter Nachrichten“. Die Auflösung von Demonstrationen sei für Demokraten kein Grund zur Freude. „Aber es ist richtig, dass die Polizei eingreift, wenn zu vielen Demonstranten in Berlin Freiheit und Gesundheit ihrer eigenen Mitbürger offenbar egal waren.“

Am Rande der Proteste kam es vor allem vor der russischen Botschaft nahe dem Brandenburger Tor zu Angriffen von Reichsbürgern und Rechtsextremisten auf Polizisten. Aus einer Menge von 3000 Menschen wurden Steine und Flaschen geworfen. Den ganzen Tag über habe man erlebt, dass Rechtsextreme „versuchen, die Situation aufzuladen, zu provozieren“, berichtete RBB-Reporter Olaf Sundermeyer in den tagesthemen. Die Demonstranten vor dem Reichstagsgebäude – das sei „das Bild, von dem die gesamte rechtsextremistische Szene seit Tagen phantasiert“ habe.

Verbot der Demos scheiterte vor Gericht

Eigentlich wollten die Berliner Behörden die Versammlungen vorab verbieten. Als Grund für die Verbotsverfügung hatte die Polizei angeführt, dass durch die Ansammlung Zehntausender Menschen – oft ohne Maske und Abstand – ein zu hohes Gesundheitsrisiko für die Bevölkerung entstehe. Allerdings unterlagen die Behörden vor Gerichten – letztinstanzlich vor dem Oberverwaltungsgericht Berlin in der Nacht zum Samstag.

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Angesichts des Vorfalls am Reichstagsgebäude sieht der Berliner Innensenator Andreas Geisel das ursprünglich angestrebte Verbot gerechtfertigt. „Leider ist gestern genau das eingetreten, was die Sicherheitsbehörden zuvor befürchtet hatten“, erklärte Geisel. Er höre „jetzt auch Stimmen, die sagen, das hätte man verbieten müssen. Genau das haben wir deshalb im Vorfeld getan“. 

Über dieses Thema berichteten die tagesthemen am 29. August 2020 um 23:15 Uhr.


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