US-Wahl: Biden und Harris treten zum ersten Mal gemeinsam auf
Es schüttete in Strömen an diesem Nachmittag in Wilmington im Bundesstaat Delaware — der Heimatstadt von Joe Biden, Obamas ehemaligem Vize, der bei der Wahl im November Donald Trump bezwingen möchte. Und obwohl der Ort geheim gehalten worden war, hatten sich vielleicht 200 Menschen vor dem Eingang der Schule eingefunden, in der Biden zum ersten Mal mit Kamala Harris vor die Fernsehkameras treten wollte — jener Frau, die er sich als politische Gefährtin ausgesucht hat.
Fast alle trugen Masken. In dem gespaltenen Amerika von heute, in dem politische Entscheidungen immer auch kulturelle Entscheidungen sind, ist das Tragen von Masken beinahe ein Stammesabzeichen: Anhänger von Donald Trump glauben, ohne Mund-Nasen-Schutz auszukommen, als gäbe es das Coronavirus nicht. Demokraten dagegen tragen die Maske beinahe wie ein Zeichen des Protests.
Selbstverständlich war die Halle, in der Biden und Harris sich (mit mehr als zwei Stunden Verspätung) der Öffentlichkeit stellten, beinahe menschenleer; nur eine Handvoll Journalisten saß in Sicherheitsabständen über den Raum verteilt. So ist es schwer zu sagen, wie dieser Auftritt ankam: kein Beifall, kein Johlen, keine Pfeifer, keine Zwischenrufe — ein Vorgeschmack auf die Gespensterkampagne, die Amerika in diesem Herbst bevorsteht.
Joe Biden ist kein begnadeter Redner. Das hat nichts mit seinem fortgeschrittenen Alter zu tun, es war schon immer so; zum Teil hängt es damit zusammen, dass der Mann ein Stotterer ist, was er mit viel Sprachtraining überwinden musste. Aber dafür, dass Biden ein schlechter Redner ist, sprach er dann ziemlich gut.
Der Höhepunkt seiner Rede — nachdem er sich bei allen anderen Frauen bedankt hatte, die auch als Kandidatinnen infrage gekommen waren, und nachdem er Donald Trump als Heulsuse beschrieben hatte — war seine patriotische Definition der Vereinigten Staaten: „America is potentialities“, sagte er. Amerika besteht aus Möglichkeiten.
Dann kam Kamala Harris. Und wer noch Zweifel hegte, ob Joe Biden mit dieser Frau die richtige Wahl getroffen hatte, der konnte sie bei ihrer kleinen Ansprache sehr schnell verlieren. Es gibt übrigens — auch wenn zurzeit keine Menschenmassen zusammenkommen, deren emotionale Temperatur man als Berichterstatter messen kann — doch einen objektiven Maßstab, an dem sich Begeisterung ablesen lässt: Geld. In den vier Stunden, nachdem Biden seine Entscheidung für Harris bekanntgegeben hatte, nahm sein Team mehr als zehn Millionen Dollar in privaten Parteispenden ein.
Naturgemäß griff Harris Donald Trump scharf an: Er habe in seiner Reaktion auf die Corona-Seuche versagt, Amerika die schlimmste Wirtschaftskrise seit den 1930er Jahren beschert und weiße und schwarze Amerikaner aufeinander gehetzt. Aber wenn diese Philippika auch sehr deutlich war, bildete sie doch nicht den emotionalen Glutkern ihrer Rede.
Eigentlich blieben vor allem zwei Dinge im Gedächtnis: Erstens, mit welcher Wärme sie über Joe Bidens Sohn Beau sprach, den sie gut gekannt hatte — sie war Justizministerin von Kalifornien, er war Justizminister von Delaware, und in dieser Funktion sorgten die beiden dafür, dass nach dem großen Bankenkrach von 2008 nicht Tausende von Amerikanern ihre Häuser verloren. Beau Biden erlag später einem Krebsleiden; Joe Biden rang sichtbar um Fassung, als Harris von seinem verstorbenen Sohn sprach. Verbunden war die Eloge, die Harris hielt, mit einem Bekenntnis zu Familienwerten — gerade so, als seien heute die Demokraten die eigentlich konservative Partei.
Der zweite Höhepunkt der Rede war die hoffnungsvolle Zukunftsvision, die Harris entwarf: Sie versprach „Jobs, Jobs, Jobs“, eine Wendung hin zu erneuerbaren Energien, eine von wissenschaftlichen Erkenntnissen getragene Seuchenbekämpfung. Einen Wiederaufbau Amerikas, bei dem es im Grunde um einen Neuaufbau gehe — „build back better“.
Aber das Eigentliche war nicht der Inhalt dessen, was Kamala Harris sagte, sondern der Stil: Sie wirkte jugendlich, frisch und kein bisschen verzweifelt. Harris sprach davon, dass sie als Staatsanwältin in Kalifornien scharf gegen bewaffnete Gangs vorgegangen sei; es dürfte Trump schwerfallen, sie als Bundesgenossin der salvadorianischen Verbrecherbande „MS-13“ hinzustellen. Mehrere Male zitierte sie den Slogan ihrer Kampagne: „Kamala Harris for the people.“
Das soll wohl heißen: Ich melde schon jetzt meinen Machtanspruch an — in vier Jahren strebe ich nicht mehr das zweithöchste, sondern gleich das höchste Amt an, das die amerikanische Republik zu vergeben hat. Biden hatte zuvor davon gesprochen, dass Harris bei Beratungen „die letzte Person im Zimmer“ sein werde, dass er auf ihre Einwände hören werde. Biden nahm Harris‘ Machtanspruch also nicht nur hin, er begrüßte ihn sogar.
Trump hat wenig entgegenzusetzen
Joe Biden wurde 2008 Vizepräsident der Vereinigten Staaten, weil Barack Obama sozusagen eine Versicherung brauchte: Er wollte die moderaten, mehrheitlich weißen Amerikaner im Wahlkampf beruhigen, dass mit ihm kein Linksradikaler ins Weiße Haus einzog. Auch diesmal steht Joe Biden für das Alte und Bewährte, für eine Rückkehr zur Normalität.
Kamala Harris aber verkörpert — wenigstens in den Augen ihrer Anhänger — etwas Anderes, wie Befragungen von Passanten in verschiedenen Bundesstaaten zeigten: Sie verkörpert die Zukunft Amerikas. Und noch hat das Wahlkampfteam von Donald Trump (außer der inhaltsleeren Beschimpfung, Harris sei „nasty“, gemein) nichts gefunden, was er dieser Frau entgegensetzen könnte.
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