Mike Shinoda von Linkin Park über Twitch: “Die Fans können mir zuschauen”
By Korbinian Geissler 4 Jahren agoSPIEGEL: Während des Corona-Lockdowns haben Sie das tägliche Streamen und Produzieren neuer Musik im Gamer-Netzwerk Twitch für sich entdeckt. Was reizt Sie daran?
Shinoda: Wenn man viel Zeit totschlagen muss, hilft es einem, dem Tag eine Struktur zu geben. Deshalb streame ich täglich um zehn Uhr am Vormittag, drei Stunden lang. Am Zuspruch der Fans merke ich, dass die Sehnsucht nach Gemeinschaft zurzeit ziemlich groß ist. In vielen Sozialen Netzwerken ist die Stimmung ziemlich aggressiv. Musik hingegen erfreut alle.
SPIEGEL: Sie binden Ihre Fans ein, setzen deren Vorschläge um – und haben manche sogar auf Ihren Songs singen lassen. Was versprechen Sie sich von so viel Nähe?
Shinoda: Es gibt keinen Plan, kein Konzept. Ich starte jeden Tag bei Null. Aber nach drei Stunden ist meistens irgendetwas Interessantes passiert. Darum geht es.
SPIEGEL: Kommentieren Sie auch missratene Versuche?
Shinoda: Missraten ist relativ. Manches ist so grotesk, dass es schon wieder lustig ist. Aber alle paar Wochen räume ich schon mal öffentlich ein, wenn etwas total nach hinten losgegangen ist.
SPIEGEL: Sie haben für dieses Experiment das Netzwerk Twitch ausgesucht, das bislang überwiegend von Gamern genutzt wurde und nun zunehmend in den Fokus der Musikwelt rückt. Wie sind Sie auf Twitch gekommen?
Shinoda: Ich bin seit Ewigkeiten Gamer. Allerdings nicht so extrem wie so manche anderen, die rund um die Uhr zu spielen scheinen. Ich spiele zwar gerne, aber es ist mir nie wirklich Ernst. Dennoch bin ich schon länger mit Twitch als Livestreaming-Plattform für Gamer vertraut. Während des Lockdowns realisierte ich, dass einige Musiker begannen, Twitch zu nutzen: DJs streamen dort ihre Sets, Rapper und Bands führen Musik auf – eine kleine Music-Community unter all den Gamern. Ich beschloss, dass ich diese Plattform auch so nutzen wollte, aber doch anders. Ich wollte spielen – und zwar mit der Produktion von Songs.
SPIEGEL: Sie jonglieren da mit Musik, die über die ihnen vertrauten Genres Metal und Hip-Hop hinausgeht.
Shinoda: Sagen Sie mir irgendein Genre und ich kann einen Song in dem Stil schreiben! Das trauen mir viele nicht zu, weil sie mit mir nur den Linkin-Park-Sound in Verbindung bringen. Wenn jemand, also zum Beispiel die Fans auf meinem Twitch-Kanal, von mir einen Song im Motown-Style, Neunziger-R&B, Achtziger-Hip-Hop oder einfach modernen Metal oder EDM hören will, schreibe ich den aus dem Stegreif, denn ich begreife die DNA eines jeden Genres. Diese Idee ist der Nukleus dieses Projektes: Die Fans können mir zuschauen, wie ich Songs entwerfe und dabei erzähle, wie das geht. Außerdem wird das Zuschauen auch zu einem Spiel, die Fans können “Shinoda Bucks” verdienen, wer genug davon hat kann eine Frage stellen, einen Musikvorschlag machen oder ein individuelles GIF basteln.
SPIEGEL: Raubt es der Musik nicht das Geheimnis, die Fans an allem teilhaben zu lassen?
Shinoda: Nein, denn so wie ich auf Twitch Musik produziere, gehe ich meine eigenen Alben im Studio nicht an. Bestimmte Sachen würde ich nie öffentlich machen, zum Beispiel den Gesang für ein Linkin-Park-Album aufzunehmen. Das ist zeitaufwendig und emotional und eignet sich nicht für die Öffentlichkeit. Wer möchte mir schon dabei zusehen, wie ich stundenlang vor mich hin murmele? Es ist wirklich langweilig, mir im Studio über die Schulter zu schauen, wenn es ernst wird.
SPIEGEL: “Dropped Frames” heißt die Album-Reihe, in der Sie die Resultate der Sessions mit ihren Fans veröffentlichen. Die ersten beiden Volumes sind gerade erschienen. Was bedeutet der Titel?
Shinoda: Das ist ein Begriff, der einem beim Streaming anzeigt, dass die Qualität schlecht ist. Eine der Nebenwirkungen des Lockdowns in LA zu Beginn der Pandemie war, dass durch den drastischen Anstieg von Homeoffice-Video-Konferenzen die Qualität der Datenübertragungen in manchen Bezirken der Stadt abfiel. Auch mein Internetanschluss war zu Beginn des Lockdowns unbrauchbar, immer wieder war ich offline. Jetzt läuft’s wieder, aber der Titel ist als scherzhafte Erinnerung daran gemeint.
SPIEGEL: Ist ihre Twitch-Musik allein der überschüssigen Lockdown-Zeit zu verdanken oder sehen Sie darin eine Evolution der Musikindustrie?
Shinoda: Wenn das alles irgendwann vorbei ist, werde ich weiterhin auf Twitch aktiv sein. Ich finde, die Interaktion mit den Fans ist eine aufregende neue Erfahrung. Außerdem habe ich da viel Arbeit hineingesteckt, warum sollte ich das alles wieder hinschmeißen? Aber wenn die Musikindustrie zur Normalität zurückkehrt, werden alle wieder weniger Zeit haben. Vielleicht spielen die Musiker da irgendwann auch nur noch Spiele. Wäre auch okay. Im Moment steigt der Anteil an Musik bei Twitch allerdings noch.
SPIEGEL: Songwriting-Teams sind schon länger in Mode. Jetzt kommen Songs mit Fans dazu. Ist der einsame, genialische Songwriter im stillen Kämmerlein ein Auslaufmodell?
Shinoda: Der kreative Prozess ist in keiner Weise davon abhängig, wie viele Individuen daran beteiligt sind. Pop-Songwriting-Teams sind derzeit ziemlich erfolgreich. Und die allermeisten Songwriter, die ich kenne, schreiben lieber mit anderen zusammen, als alleine. Mir gefällt beides. Ich sah gerade neulich diesen Clip mit den zwei Teenagern, die Phil Collins’ “In The Air Tonight” hören und völlig ausflippen, wenn dieses unfassbare Schlagzeug einsetzt. Ich habe extra nochmal nachgeschaut: Der Song ist tatsächlich von ihm allein geschrieben und überwiegend von ihm ganz alleine eingespielt worden. Collins ist wirklich eine One-Man-Band. Und so etwas wird nie aussterben.
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