Kampf um Beirut– Abertausende demonstrieren im Libanon

Kampf um Beirut– Abertausende demonstrieren im Libanon

Samer meldet sich aus dem Krankenhaus. „Ein Gummigeschoss in den Arm, eins ins Bein“, sagt er und fügt an: „Schweine!“ Die Proteste in Beirut haben gerade erst begonnen. Es dauert nicht lange an diesem Tag, bis die Gewalt ausbricht. Der riesige Zorn in der Bevölkerung entlädt sich schnell und mit Wucht. Abertausende kommen am Samstag auf dem Märtyrerplatz in Beirut zusammen. Es ist laut und wütend. Demonstranten hämmern unaufhörlich mit Stöcken und Steinen auf Metallplatten und Metallpfähle ein, als wären es Kriegstrommeln. Dazu wogt die Menge hin und her. Die Demonstranten ergreifen vor dem Tränengas und den Gummigeschossen die Flucht, strömen wieder zurück. Immer wieder bahnen sich Krankenwagen ihren Weg durch die Menschenmassen. Die Rettungsdienste melden später mehr als 700 Verletzte, ein Polizist kommt zu Tode. 

Christoph Ehrhardt

Auf dem Platz sind Galgen errichtet worden, an denen Pappfiguren der verhassten politischen Führer aufgeknüpft werden. Die Zeiten sind vorbei, in denen ein zotiger, aber spielerischer Slogan der Hit des Volksaufstands war. Das klingt jetzt anders. Die Mächtigen aus dem Kartell von Oligarchen und Warlords sollen hängen. Der neue Slogan lautet übersetzt in etwa „knüpft die Galgenstricke“. Er prangt an Hauswänden, steht auf Flugblättern, wurde mit dem Finger in den Staub auf Trümmerteile geschrieben. Auch die Parole „alle heißt alle“ aus dem Herbst, als der Aufstand ausbrach, passt nicht mehr. Jetzt herrscht eine Stimmung, die schreit: Ihr oder wir.

Der Druck auf die Politik wächst

Es ist ein Wutausbruch mit Ansage. Zu viel haben die Leute erleiden müssen. Der Staat bankrott und ausgeplündert, die Wirtschaft am Boden. Und dann die Explosion, die einen Hafen und ganze Stadtviertel verwüstet hat und für die es aus der Sicht der Demonstranten nur eine Erklärung gibt: Die politische Klasse hat es in ihrer Ignoranz und ihrem Egoismus über Jahre und trotz eindringlicher Warnungen nicht fertiggebracht, tausende Tonnen hochexplosiven Ammoniumnitrats aus dem Hafen zu schaffen oder wenigstens verantwortungsvoll zu verwahren. Präsident Michel Aoun, sein verhasster Schwiegersohn Gebran Bassil oder Hassan Nasrallah, der Anführer der mächtigen Schiitenorganisation Hizbullah, werden als „Mörder“ oder „Terroristen“ beschimpft. Eine ältere Frau beobachtet die Krawalle durch ihre Designerbrille und sagt: „Leider muss es so sein.“ 

Symbolisch am Galgen: Libanons Premier Diab (links) und Vorsitzender der Partei Forces Libanaises, Samir Geagea


Als um die Mittagszeit Bilder der Polizeikräfte umgehen, die gepanzerten Fahrzeugen und Wasserwerfer in Marsch setzen, schickt Samer eine Sprachnachricht: „Jeder mit dem ich gesprochen habe von meinen Freunden, mein Bruder – sie sind bereit für einen Kampf, den sie im Oktober erwartet, aber nicht bekommen haben.“ Jetzt ist er da. Aber wie lange die Kraft dieses Mal reicht, und ob die so korrupte und wie widerstandsfähige Führung jetzt zum Einlenken gezwungen wird, ist auch an in diesen Tagen der Wut noch völlig offen. Ministerpräsident Hassan Diab kündigt am Abend an, einen Vorschlag ins Kabinett einzubringen, die Parlamentswahl vorzuziehen. Aber es wäre nicht das erste Mal, dass solche Vorstöße im Libanon auf Druck der politischen Führer zu nichts führen. Und der Regierungschef, dessen Mannschaft von eben diesen Führern handverlesen wurde, ist auch nicht Herr des Verfahrens.   

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