Ausschreitungen nach Katastrophe in Beirut: Erstes Regierungsmitglied im Libanon tritt zurück – Wirtschaft
Im Zentrum Beiruts sind Demonstrationen gegen die Regierung am Samstag in Chaos und Gewalt umgeschlagen. Ein Polizist wurde getötet, wie die Sicherheitskräfte erklärten. Das Rote Kreuz meldete, mehr als 200 Menschen seien verletzt worden. Premierminister Hassan Diab kündigte am Abend vorgezogene Neuwahlen an.
Am Sonntag zog ein Regierungsmitglied Konsequenzen. Informationsministerin Manal Abdel Samad trat als erstes Kabinettsmitglied zurück. „Nach der gewaltigen Katastrophe in Beirut erkläre ich meinen Rücktritt aus der Regierung“, sagte Samal in einer kurzen Stellungnahme. „Ich bitte die Libanesen um Entschuldigung. Wir sind ihren Erwartungen nicht gerecht geworden“ fügte sie hinzu.
Am Samstagabend hatte die libanesische Armee die Besetzung des Außenministeriums in Beirut nach drei Stunden beendet. Soldaten räumten das Gebäude. Eine Journalistin vor Ort berichtete auf Twitter, sie habe beobachtet, wie Einsatzkräfte Gummigeschossen einsetzten. Videos zeigen, wie die Kräfte mit Stöcken auf Demonstranten einschlagen.
Die Aktivistengruppe, die die Regierungsgebäude besetzte, wird von ehemaligen Armeeoffizieren angeführt. Einer der Ex-Offiziere sagte dem Sender Al Jazeera: „Wir werden heute Nacht im Außenministerium schlafen. Sie können uns mit Kugeln hier rausholen, aber wir werden nicht freiwillig gehen.“
Sie erklärten das Gebäude des Außenministeriums zum „Hauptquartier der Revolution“ und verfolgen das Ziel, auch die anderen Ministerien in Beirut zu stürmen, die sie zum „Eigentum der Bevölkerung“ erklärten. Auch die Sabaa Partei, eine säkulare Partei und die einzige, die von Anfang an die Massenproteste unterstützt hat, ruft dazu auf, alle Ministerien zu „stürmen“.
Die Protestierenden ließen Banner mit der Aufschrift „Beirut ist die Hauptstadt der Revolution“ von einem Balkon herunter, Reden wurden gehalten. Ein Video auf Twitter zeigt, wie die Besetzer ein Bild des libanesischen Präsidenten Michel Aoun zertrümmern. Aufnahmen zeigen auch, wie die Aktivisten Dokumente aus den Ministerien auf die Straße werfen.
Das Energieministerium bezeichneten die Aktivisten als „das Ministerium der Plünderung und Korruption“. In einem Video aus dem inneren des Gebäudes, das die Demonstranten aufgenommen haben, beklagen sie sich darüber, dass in dem Gebäude die Lichter brennen und Klimaanlagen laufen – während große Teile der Beiruter Bevölkerung seit der Explosion über keine Elektrizität verfügen. Die Detonation hat Anwohnern vor Ort zufolge das Stromnetz beschädigt, private Generatoren können sich viele Beiruter jedoch nicht leisten.
Am Abend hielt Premierminister Hassan Diab eine Rede, in der er nochmals betonte, dass er alle für die Explosion in Beirut Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen werde. Außerdem stellte er vorgezogene Parlamentswahlen in Aussicht. Sie seien der einzige Weg, um aus der Krise zu kommen. Er werde seinem Kabinett daher am Montag Neuwahlen vorschlagen.
Dabei gab er zu, dass die schwere Katastrophe im Hafen Beiruts das „Resultat von jahrelanger Korruption und schlechter Führung“ war. Er wolle zwei Monate lang interimsweise die politische Führung des Landes übernehmen, um eine Einigung der politischen Parteien zu erzielen.
„Das Ausmaß des Desasters ist größer, als es sich irgendjemand vorstellen kann“, erklärte Diab. „Wir befinden uns in einem Notstand.“ Er stehe an der Seite derjenigen, die einen Wandel wollten, sagte er. Wann genau es Neuwahlen geben könnte, ist unklar.
Scharfe Schüsse auf Demonstranten
Videos auf Twitter vom frühen Abend zeigen brennende Barrikaden, die die Demonstranten auf dem Märtyrer-Platz aufgebaut haben. Einem Korrespondenten des libanesischen Senders MTV zufolge war ein großes Feuer in der Nähe des Parlamentsgebäudes ausgebrochen, starker Rauch war zu sehen.
Demonstranten legten auch andere Gebäude in der Innenstadt in Flammen. Eines der brennenden Häuser soll dem ehemaligen Minister und Bankbesitzer Marwan Kheireddine gehören. Für die libanesische Bevölkerung verkörpert Kheireddine Korruption und Vetternwirtschaft.
Bilder des Journalisten Timour Azhari auf Twitter zeigen zudem, dass Demonstranten offenbar durch Gummigeschosse verletzt wurden. Er postete auch Bilder von Polizisten in Schusspose und mit Schusswaffen in der Hand. Auf Videos sind Schüsse zu hören, eine Aufnahme zeigt, wie ein Polizist mit einem Schlagstock auf eine Frau einprügelt.
Lokale Medien berichten, dass die Sicherheitskräfte auch scharfe Munition gegen Demonstranten einsetzen, die Polizei bestätigte die Schüsse gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters. Ein Video auf Twitter zeigt einen schwer verletzten, blutüberströmten Mann, auch im Fernsehen waren mehrere blutende Menschen zu sehen. Die genauen Umstände waren zunächst unklar.
„Das Volk will den Sturz des Regimes”
Dem lokalen Nachrichtenportal Al Jadeed News zufolge soll die Beiruter Feuerwehr den Befehl der Sicherheitskräfte verweigert haben, Wasserwerfer zu den Protesten zu schicken. Sie sollten offenbar gegen die Demonstranten eingesetzt werden. Bei der massiven Explosion im Hafen von Beirut Mitte der Woche waren zehn Feuerwehrleute ums Leben gekommen.
„Das Volk will den Sturz des Regimes“ war bei den Protesten in Sprechchören zu hören. „Verschwindet, ihr seid alle Mörder”, stand auf Bannern. Und: „Wir wollen eine Zukunft in Würde, wir wollen, dass das Blut der Explosionsopfer nicht umsonst vergossen wurde“, sagte Rose Sirour, eine der Demonstrantinnen.
Viele machen Regierung für Katastrophe verantwortlich
Viele Menschen im Libanon machen die Regierung für die Explosion mit mehr als 150 Toten und rund 5000 Verletzten verantwortlich. „Der Aufstand und die Revolution gehen weiter“, sagte einer der Demonstranten dem libanesischen Sender MTV.
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Präsident Michael Aoun, Regierungschef Hassan Diab und die gesamte politische Führungsspitze seien für die Katastrophe verantwortlich. Die Wut ist auch deswegen so groß, weil offenbar über Jahre große Mengen der hochexplosiven Chemikalie Ammoniumnitrat ohne Sicherheitsvorkehrungen im Hafen lagerten. Dies soll die gewaltige Explosion verursacht haben.
Warnungen wurden Berichten zufolge in den Wind geschlagen. Am Freitagabend ordnete ein Richter die Festnahme von drei leitenden Hafen-Mitarbeitern an, darunter den Direktor und den Chef des Zolls. Bereits im vergangenen Oktober hatte es Massenproteste gegen die Regierung gegeben. Kritiker werfen der Führung in Beirut vor, das Land durch Vetternwirtschaft und Korruption in die Krise geführt zu haben.
Am heutigen Sonntag wollen Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und die Vereinten Nationen gemeinsam eine Geberkonferenz für den schon zuvor von einer Wirtschafts- und Finanzkrise sowie der Corona-Pandemie geplagten Libanon ausrichten. Auch US-Präsident Donald Trump kündigte seine Teilnahme an der Videokonferenz an, die Gelder für den Wiederaufbau von Beirut sammeln soll. Deutschland wird von Außenminister Heiko Maas vertreten. (mit Reuters, dpa, AFP)
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